FERNWEH ist ein Gefühl, das die Menschen früher gar nicht kannten. Heute bedeutet diese Sehnsucht viel mehr als nur die Lust am Reisen. Ostdeutsche wissen, warum. Doch was ist Fernweh?
Herbert Grönemeyer „Fernweh“
Schulklassen entscheiden sich immer häufiger für Klassenfahrten in der Ferne. Abendteuer und jede Menge Spaß, aber auch das Erkunden von neuen, fernen Orten wecken das Interesse von Schüler:innen und Lehrer:innen. Herbert Grönemeyer hat Fernweh, „unglaublich Fernweh, mit einem Hauch Melancholie“. Davon singt der Ruhrpottnuschler und Endsilbenverschlucker derzeit im Radio, wenn er nicht gerade mehr Schiffsverkehr fordert. Was ja auch mit Fernweh zu tun hat. Aber was ist das eigentlich: Fernweh? Und was macht es mit uns?
Die große Sehnsucht: Mit Klassen in das Ausland?
Im Grunde ist es eine große Sehnsucht und die kleine Schwester vom Heimweh, jenem schmerzhaften Vermissen des Vertrauten in der Fremde. Fernweh ist die Sehnsucht nach Verheißung, nach Versprechen, nach neuen Orten. Nach fernen Plätzen, die durchaus bekannt sein können. Nach neuen Erfahrungen, neuen Zielen, neuen Menschen. Auf dass wir uns aus diesen Begegnungen einen kostbaren Erinnerungsvorrat für trübe Tage anlegen können. Vielleicht neue Erkenntnisse gewinnen und anders zurückkommen, als wir aufgebrochen sind. Das Fernweh ist auch die Sehnsucht der menschlichen Seele nach sich selbst, nach neuer Selbst-wahrnehmung und Grenzüberschreitung, nach neuen Türen zum Ich.
Fernweh muss man sich leisten können. Finanziell und mental. Denn dieses Gefühl ist nimmersatt. Kaum ist es gestillt, erwacht es. von Neuem, begleitet von Sehnen und Vorfreude. Gibt es niemals Ruhe, liegt ein klarer Fall von Poriomanie vor, dem Reisedrang, beziehungsweise dem unbedingten, weil zwanghaften Verreisenmüssen. Starkes Fernweh kann auch gemeinsam mit (bisher unerkannten, weil für Lustlosigkeit oder Unzufriedenheit gehaltenen) Depressionen auftreten wird das Fernweh nicht gestillt, siegt die Depression.
Die Geschichte des Wortes Fernweh
Die Grundidee der Moderne ist der selbstbestimmte, entdeckerfreudige Mensch. Er hat es in die Welt getragen und mit fremden Bildern und Gerüchen gestillt. Fernweh ist ein Kunstwort, wie Grübelzwang oder german angst. Es gehört noch gar nicht so lange zu unserer Sprache. Unsere Ahnen kannten weder das Wort noch den Gedanken, schon gar nicht das Gefühl, das es ausdrückt. Die hatten andere Probleme. Sie saßen hinter den sieben Bergen, bestellten ihre Scholle, fütterten – wenn sie Glück hatten – ihre Tiere. Was sich im nächsten Tal oder hinterm Horizont befand, war für ihre tägliche Mühsal und ihr kleines Glück unerheblich. Das Wetter war wichtiger.
Auch diejenigen unserer Vorfahren, die ihr täglich Brot damit verdienten, in frühkapitalistischen Fabriken zu malochen oder in den Berg einzufahren, um per Schwerstarbeit dessen Schätze abzubauen, konnten sich aus Überlebensgründen ein Gefühl wie Fernweh nicht leisten. Zudem war Mobilität für sie ein Fremd-wort. Ausnahmen bildeten die sogenannten fahrenden Gesellen und Handwerksburschen auf der Walz. Doch deren Antrieb war nicht Fernweh, sondern die Suche nach dem nächsten Meister, bei dem man unterkommen, etwas lernen konnte – warme Mahlzeit inklusive.
Absichtsloses Reisen nur so zum Vergnügen, um des Abenteuers, der Befriedigung von Fernweh plus Entdeckerlust oder der Bildung willen, war bis in die 1950er-Jahre nur Privilegierten vorbehalten. Grande Tour nannte man die große Bildungsreise der jungen europäischen Adligen in den vergangenen Jahrhunderten, bei der sie nach Italien fuhren oder das Land der Griechen mit der Seele suchten. Die Gran¬de Tour kam aus der Mode und wurde durch den Massentourismus zwecks demokratischer Fernwehbefriedigung für jedermann und die ambitionierte Bildungsreise ersetzt. Letztere hat eher wenig mit Fernweh zu tun.
In einem Fernsehinterview offenbarte vor Jahren der Schauspieler Klaus Maria Brandauer, der gemeinsam mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Karin in Altaussee aufgewachsen ist, das alles bestimmende Gefühl seiner Kindheit und Jugend, das ihn mit seiner späteren Frau verband und von seinen Altersgefährten trennte: das Fernweh. Um jeden Preis entdecken und erfahren zu wollen, was sich hinter den Bergen von Altaussee befindet. Das Heranwachsen an Orten, die man allgemein gern als Provinz bezeichnet, kann sich bis heute genauso anfühlen und ist deswegen ein fruchtbarer Nährboden für Fernweh, Sehnsüchte und Entdeckerlust.
Frenweh International
In der englischen Sprache gibt es das Wort Fernweh nicht, was vielleicht mit der britischen Tradition einer kolonialen Weltmacht zu tun hat. Wer dort unter Fernweh leidet, spricht von „juckenden Füßen“ (to have itchy feet), was eine bezaubernde Umschreibung für einen Seelenzustand ist.
Das zielgerichtete Fernweh, das nur durch eine Urlaubsreise nach Schweden zu stillen ist. Das „Bullerbü-Syndrom“, beschrieben in Astrid Lindgrens Buch, drückt die Sehnsucht aus nach Elchen, roten, putzigen Holzhäuschen, hellen Nächten und blonden, glücklichen Menschen un-ter blauem Himmel. Die vor allem unter Lehrern, Intellektuellen und Künstlern verbreitete Sehnsucht nach Olivenbäumen vor Bruchsteinmauern in der Toska¬na und Pizza auf der Piazza bei Prosecco hat noch keinen gescheiten Namen, der auf ,,-syndrom“ endet. Was ungerecht ist, schließlich ist die Toskana-Fraktion un¬ter den Fernwehern doch viel größer als die Gemeinde der Bullerbü-Verehrer. Der singende Herbert bekommt Fernweh, wenn Wolken an ihm vorüberzie¬hen. Wir bekommen Fernweh von einem bestimmten Duft, der an die Gewürze auf Kreta erinnert. Auch vom Blick auf ein Urlaubsfoto kann es ausgelöst werden. Oder von jener Fernsehwerbung, in der weiß gekleidete, hübsche, niemals schwit¬zende Menschen unter südlicher Sonne am blauen Meer weißes Krümelkonfekt naschen. Allenthalben und äußerst ge¬schickt setzt die Werbung auf unsere Nei¬gung zum Fernweh. Das nämlich kann kompensiert werden durch den Erwerb von hübschen Kleinigkeiten des alltägli-chen Konsums. Dior hat gerade einen Fernwehduft auf den Markt gebracht, der aus Polynesien kommt. „Die süß duftende Tiare-Blüte aus Tahiti mischt sich mit Aromen von Blutorange, Kardamom und einem Hauch Koriander und macht Lust auf Entdeckungstouren in ferne Länder“.
Erinnert sich noch wer an den alten Fernsehwerbetrailer für das Duschgel Clifft? Da sprang ein athletischer Jüngling kühn von der hohen Klippe eines tropischen, palmenumsäumten Wasserfalls hinunter in dessen tosende Fluten. Als dann vor 21 Jahren wir Ostmenschen die Westläden stürmten, waren nicht – wie man annehmen sollte – zuerst sämtliche Bananen ausverkauft. Sondern das Duschgel namens Cliff. Unsere Sehnsucht hatte einen Namen.
Die DDR
Fernweh in der DDR ist aus naheliegenden Gründen ein kompliziertes Thema, weil Fernweh auch mit Reisen zu tun hat. Wer warum wohin – und vor allem: wohin nicht – reisen konnte, ist inzwischen hinlänglich erörtert. Und ja, der Balaton war schön. Die Ostsee ist es noch und der Thüringer Wald sowieso. Alle anderen Fernweh-Sehnsüchte wurden von uns 17 Millionen fantasievoll im Kopfkino und mit allen Sinnen ausgelebt, Grenzen und Mauern kreativ überwindend. Beispielsweise durch Musik. Beim Genuss der vereinigten Restsüßen aller RGW-Länder ließen wir den unerreichbaren Chianti-Wein hochleben, der, so der Liedtext, uns alle einlädt, fröhlich zu sein. Was wir waren. Ein
subversives Thema war Fernweh in den Songs von Tamara Danz und ihrer Gruppe Silly: „Sie wollen mit den Vögln ziehn, in die warmen Länder, der verlornen Kinder von Berlin.“ Oder: „Ich sehn‘ mich nach der Ferne. Die Ferne ist ein schöner Ort, doch wenn ich da bin, ist sie fort.“
Die Schriftstellerin Lieselotte Welskopf-Henrich brachte mit ihren Büchern die Welt der Indianer Nordamerikas in unser kleines Land und unser überschau¬bares Leben. Wir sympathisierten mit den „Söhnen der Großen Bärin“, jenen tapferen Kriegern, die für uns das Gesicht und den Bizeps von Gojko Mitic hatten und bis heute einen Platz in unseren Herzen behalten. In Suhl gab es das einzige japanische Restaurant westlich des Urals. Die Wartelisten waren Legende, der Genuss der exotischen Speisen auch. Einen Platz im Ambiente des „Waffenschmied“ zu ergattern war ein Fernwehvergnügen, auf das man sich durch jahrelanges Warten vorbereiten konnte. Menschen, die dies geduldig taten, schwören noch heute, es habe sich gelohnt.
Äußerst hilfreich bei Fernweh war auch das Tapezieren der guten Stube mit einer leuchtend bunten Fototapete. Sie zeigte unter tiefblauem Himmel eine einsame Insel mit einer windzerzausten Palme. Himmel, Insel und Palme waren abwaschbar und farbecht. Das waren auch die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel beeindruckender Gebirgszüge; ein weite¬res, gern geklebtes Fototapeten-Motiv.
Wem das Betrachten von Bergen und Meer an der Wand zum Stillen des Fern¬wehs nicht genügte, der konnte zu Ge¬tränken mit exotischen Namen und grenzerweiternder Wirkung greifen. Das passende Getränk zur Fototapete mit Eiland war Blue Curacao. Der nach einer vor Venezuela gelegenen Insel benannte Pomeranzenlikör war beliebt und stets überall vorrätig. Dieses knallblaue, verheißungsvolle Getränk färbte unseren realsozialistischen Alltag exotisch ein.
Das wirkungsvollste Mittel gegen Fernweh ist immer noch Reisen. Das kreativste und vor allem bezahlbarste ist es nicht unbedingt. Kleine bis mittelgroße fernwehbedingte Fluchten aus dem Alltag
gelingen schon mit der Lektüre der Biografie von Bud Spencer, einem Besuch von „Madame Butterfly“ oder dem Auflegen der neuen Grönemeyer-CD: Lautstärkeregler aufdrehen und einfach „Fern-weh“ hören.