Dass es auch innerhalb Deutschlands spannende Ziele für Klassenfahrten gibt, ist bekannt. Im Osten der Republik gibt es für Schüler*innen viel Spannendes zu entdecken, so zum Beispiel in Kahla.
Ein Tässchen kommt selten allein – Die Leuchtenburg Kahla
Die Leuchtenburg Kahla in Thüringen kann ein Riesengeschenk gut gebrauchen. Und setzt auch Mitropa-Geschirr aus der DDR ins rechte Licht.
Für die meisten wären die Regale ein Graus. Doch für Gunnar Jakobson sind sie das Paradies. Teller und Tassen stapeln sich neben Teekannen, Saftbechern und Salzstreuern. Die Stücke sind zerbrechlich, schön und kostbar. Manche passen zusammen und manche auch nicht. Es sind 15.000 oder 20.000. „Da wollen wir doch nicht kleinlich sein“, sagt Jakobson. Er hat noch immer nicht jeden Napf umgedreht mit diesem typischen Schwung aus dem rechten Handgelenk. Es ist der Schwung, der den Kenner verrät. Er kann aus den Mustern und Buchstaben auf der Unterseite ganze Firmengeschichten und Biografien herauslesen. Blaue Schwerter aus Meissen sind die leichteste Übung. „Monika“ heißt das Mokkaservice. Wer würde sich das heute trauen. Schüler:innen tauchen hier in neue und doch vergangene Welten ein.
Wer sich für Porzellan interessiert, ist in Kahla auf der Leuchtenburg richtig. Schüler:innen, die sich nicht für Porzellan interessieren, sind hier aber ebenso gut aufgehoben. Denn dort wird das Material unterhaltungsfilmreif inszeniert. Die Schüler:innen dürfen es sogar fallen lassen. Ein langer Steg führt hinaus in die Landschaft. Von da aus können Schüler*innen, Lehrer und Lehrerinnen jeweils einen Teller mit einem notierten Herzenswunsch drauf in die Tiefe werfen. Die Teller liefert eine benachbarte Firma. Die Scherben bringen Glück. Das sieht Gunnar Jakobson anders, wenn er mit seinen Leuten einmal im Jahr den Scherbenberg abträgt. Und doch hat er Glück. Und die Burg hat es auch. Und endlich gibt es mal eine rundum positive Geschichte zu erzählen. Einige Sachsen spielen dabei eine Rolle. Und ein tragischer Tod kommt auch vor, wegen der Spannung.
Dieter Högermann – Sammler und Museumskurator
Der Tote heißt Dieter Högermann. Er arbeitete in einem Berliner Museum. Privat sammelte er Porzellan der Moderne. Leine Lebensgefährtin erteilte ihm irgendwann Flohmarktverbot. Doch welcher Sammler kann an dem Tässchen vorbeigehen, das er seit einer halben Ewigkeit sucht? Es sieht schließlich so elegant aus. Und es ist so selten, weil es Industriegeschichte erzählt. Gründe finden sich immer. Ein Tässchen kommt selten allein. Milchkännchen leben erstaunlich lange. Es gibt sie dünn Lind dickbäuchig, schlank, rund, eckig und zierlich. Und da ist von zwei Dutzend Henkelvarianten noch gar nicht die Rede. Das Design stammt direkt aus dem Bauhaus oder ließ sich von dort inspirieren.
Högermann liebte die klare Form. Lange suchte er den passenden Ort für seine Schätze. Er fand ihn auf der Leuchtenburg Kahla. Die Burg auf dem Berg in Thüringen ist schon von der Autobahn aus zu sehen. Sie gilt als Königin des Saaletals und schönste Höhenburg Deutschlands. Wissenschaftler schließen aus jüngsten Holzschnipselfunden auf ein Alter von fast 1.000 Jahren. Immer, wenn Geld da war, wurde ein weiteres Teil angebaut. Das kennt man von Gartenlauben. Ritter oder Könige wohnten da nie. Die Leuchtenburg war Verwaltung, Zucht-, Armen- und Irrenlaus. Sie erlebte die übliche Karriere als Jugendherberge. Burgmeister Gunnar Jakobson stammt aus Gera. Er wird dieses Jahr fünfzig und erinnert sich gut, wie er als Schüler über die Steine stieg.
Vielleicht rauchte er seine erste heimliche F6 in den Räumen, die er für Högermanns Sammlung vorbereitet. Sie reicht von den Dreißigerjahren bis in die Gegenwart. Berühmte Gestalter wie Gerhard Marcks, Wilhelm Wagenfeld oder Walter Gropius sind mit Spitzenstücken vertreten. Jakobson dreht ein hauchdünnes Porzellan vor seinen Augen hin und her wie einen Edelstein. Viele dünne rote Ringe laufen rund um die weiße Teetasse. Da muss jemand eine ausgeruhte Hand gehabt haben.
Als sich der Berliner Dieter Högermann 2011 mit seinen Schätzen in Kahla meldete, war die Leuchenburg Bauplatz, Vision und Finanzloch. Daran hat sich wenig geändert. Obwohl sich alles geändert hat. Sogar ein Toilettentourismus hat sich entwickelt. So sagt es Ulrike Kaiser mit einem schrägen Schein. Sie öffnet im Besucherzentrum die Tür zum Herrenklo. Das darf sie als Direktorin.
Durch hohe Fenster haben Schüler:innen und andere Besucher:innen freien Blick frei bis zum Feldgrün am Horizont. Das Örtchen ist rundum in Pink gestrichen, wohl für Freunde des Sprachspiels. Pardon.
Das Besucherzentrum ist der erste Neubau seit 150 Jahren. Ein kühner Entwurf der Architektin Silke Loose aus Dippoldiswalde. An dieser Stelle kommt auch Sven-Erik Hitzer ins Spiel. Das ist jener sächsische Unternehmer, der Schmilka zum Biodorf umbaut. Er kümmert sich um die Gastronomie auf dem Königstein. Er hatte die Schenke auf der Leuchtenburg gepachtet, als der Freistaat Thüringen das größtenteils leer stehende Areal loswerden wollte. Der Versteigerungstermin stand schon fest. Hitzer investierte 50.000 Euro und gründete kurzerhand eine Stiftung. Sie kaufte die Burganlage 2007. Sieben Jahre und sechzig Baufirmen später eröffnete die erste Austellung.
Das Besucherzentrum der Burg.
Thüringer Porzellan war aus früheren Museumsbeständen vorhanden. Immerhin soll es in der Region mal bis zu 400 Porzellanfirmen gegeben haben. Heute sind es rund 40. Und da ist die Werkstatt des Keramikmeisters Gunnar Jakobson im Nachbardorf mitgezählt. Er kommt nur gerade nicht dazu. „Porzellan ist ein anspruchsvolles Material, es erfordert Energie, Kraft, Zeit, das kann man nicht nebenbei machen.“ Vorsichtig schiebt er einen Tellerstapel im Lager beiseite. Irgendwo müsste es die dazu passende Kanne geben. Von manchem Modell kaufte der Sammler Högermann ein zweites, wenn ihm das perfekter erschien. Bei Kannen sind ja die Schnäuzel besonders anfällig.
Es sei denn, sie stehen so geschützt wie das weiße Teekännchen in der Dauerausstellung. Es würde in einen Teetropfen passen. Die Ausstellung erzählt Schüler*innen und Lehrer*innen faszinierende Porzellangeschichten. Auch am Beispiel eines Fleischklopfers, mit dem eine rüstige Rentnerin zwei Diebe in die Flucht schlug. Eine fürstliche Tafel wird lebendig per Film. Fürstliche Hände greifen hier nach Hühnerschenkeln und Trauben. Solange, bis die leeren Teller übrig bleiben und das Geplauder und Gekicher vergeht. „Am Ende“, sagt Stiftungsvorstand Sven-Erik Hitzer, „sollen die Besucher ihre Kaffeetasse zu Hause mit anderen Augen betrachten.“.
„Zunächst sind wir im Kleinbus quer durch Europa gefahren und haben geguckt, wie es berühmte Burgen machen“, erzählt Direktorin Ulrike Kaiser. Eine Ausstellungsfläche von mehr als tausend Quadratmeter will gefüllt sein. Noch sind knapp drei Millionen Euro für Kredite zurückzuzahlen. „Wir sind eine arme Stiftung, aber reich an Ideen. Wir versuchen. In Überlebensgesamtpaket zu schnüren.“ Dazu zählen österliche Mittelalterspiele und Weihnachtsmärkte und Konzerte in der weltweit einzigartigen Porzellankirche. Außerdem gibt es eine Alchemistenküche, in der sich jeder Schüler selbst sein weißes Gold mischen kann. Wirklich jeder. Die Burg ist mit Rollator und Rollstuhl befahrbar. Im Besucherzentrum stehen solche Geräte zum Ausleihen. Ein Besuch ist also auch mühelos mit Schüler*innen mit körperlichen Einschränkungen möglich. Dagegen wirken die meisten sächsischen Burgen und Schlösser wie uneinnehmbare Festungen. Sven-Erik Hitzer plant einen Schrägaufzug. Forstleute legen gerade die Schneise frei.
Die mittelalterliche Leuchtenburg zählt jährlich etwa 77.000 Besucher, darunter auch Schulklassen. Erhofft waren doppelt so viele. „Porzellan ist nicht sexy“, sagt die Chefin. Lieber spricht sie von einem Ort der Wünsche und Wunder. Und wunderbar war es durchaus, dass Högermann seine Schätze zum Geschenk machte. Sie waren verpackt in 1.100 Bananenkisten. Das will man sich lieber nicht vorstellen. Gunnar Jakobson packte aus und aus und aus. Er feierte quasi ein Jahr lang Weihnachten. „Es ist ja nicht nur die Quantität, die Sammlung hat eine fantastische Qualität!“ Wie Högermann liebt er das zeitlose, klare Design. „Schnörkel tun den Augen weh. Nur was funktioniert, ist schön!“ Er erzählt, wie Keramiker erst in den Dreißigerjahren aufs Bauhaus kamen. Außerdem spricht er darüber, wie die Bewegung „Die Gute Form“ in den Fünfzigern gegen Tütenlampe und Nierentisch opponierte. Er streicht über den glatten Bauch einer Kanne. „Erinnert das nicht in der Beschränkung aufs Wesentliche an das alte chinesische Porzellan?“
Högermann hat es nicht mehr erlebt, wie seine Kollektion geliebt wird. Auch, dass seine Kollektion erstmals an die Öffentlichkeit kam, konnte er nicht mehr erleben. Er starb 2012 mit Ende siebzig.
Zwischen Suppenschüsseln und Eierbechern liegen Zeitungspapierfetzen. Sie sind mit rotem Filzstift beschrieben. Es ist die Inventarliste des Sammlers . Zeitgleich ist es der Albtraum für jeden Austellungsmacher, der nach Systematik sucht. Gunnar Jakobson wird ohnehin nur wenige Stücke zeigen könne, 150 vielleicht. Man könnte von einem Bruchteil sprechen, wäre das nicht materialwidrig. Die Ausstellungsräume bleiben ungestrichen. Die Löcher in den Wanden unverputzt und die Holzbalken roh. „Das wertet die Formen auf“, sagt Jakobson. Billiger ist es auch. Die Sonderschau öffnet am 1. April zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum. Weil ich die Sammlung auf westdeutsches Design spezialisiert, stellt Jakobson ostdeutsche Leihgaben dazu. „Das DDR-Design der 50er- und 60er-Jahre hätte im Weltmaßstab mitmischen können.“ Das Mitropa-Geschirr nennt er ein Meisterwerk.
Es ist die bekannteste Arbeit von Margarete Jahny, die 1916 in einem Altenheim in Wittichenau starb. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Erich Müller entwarf sie die innovativsten Modelle. Das Porzellan was dann in Speisewagen und Bahnhofsrestaurants zum Einsatz kam, hatten sie unter dem Namen „Rationell“ für Hotels entworfen. Es ist nicht nur besonders leicht und stapelbar. Die Sensation ist der Kannendeckel. Man muss ihn nicht festhalten beim Einschenken. Eine Hand reicht. Jakobson demonstriert es mal, es klappt nicht, so ist das immer. Das Porzellanwerk Colditz stellte das Geschirr Anfang der Siebzigerjahre auf der Leipziger Messe vor. Eine große westdeutsche Firma kam, sah und siegte. Sie kopierte das Deckel-Prinzip und meldete es zum Patent an. Jakobson schüttelte den Kopf. „Das ist typisch für die DDR, es dauert alles viel zu lange.“
Der Westberliner Sammler Dieter Högermann mochte ostdeutsches Design nicht besonders. Am wenigsten gefiel ihm das Porzellan aus Kahla.